Eine Seite, Eine Geschichte

Notlüge

Ich hatte mir vorgenommen mit dem Lügen aufzuhören. Es war nicht so, dass ich über wichtige Dinge log. Oft waren es kleine Notlügen. Ich nutzte sie, um aus Verabredungen zu kommen, auf die ich nun doch keine Lust hatte. Oder um zu erklären, warum ich schon wieder zu spät zur Arbeit kam. Nichts drastisches also. Trotzdem möchte ich aufhören.

Vor kurzem war ich bei einer Wahrsagerin. Sie sagte mir grosses Unglück vorher, wenn ich nicht mit dem Lügen aufhörte. Ich glaube eigentlich nicht an diesen Hokuspokus. Und eigentlich wollte ich auch gar nicht da hin. Es war Esthers Schuld. Sie hat mich mitgeschleift und die Wahrsagerin hat darauf bestanden, auch mir eine Weisheit mit auf meinen Weg zu geben.

Jedenfalls war mir seither nicht so richtig wohl, wenn es um meine Notlügen ging. Und ich vermied sie ungefähr drei Tage lang. Dann kam Esther heute früh zu mir und wollte  mit mir ins Kino. Es läuft schon wieder irgendein Schnulzenfilm und ich hatte echt keinen Bock darauf.

„Ne, lass mal. Ich hab heute echt heftige Kopfschmerzen.“ Die Lüge kam mir viel zu leicht über die Lippen. Im nächsten Moment fasste ich mir an die Schläfen und sog zischend die Luft zwischen den Zähnen ein. Ich hatte hämmernde Kopfschmerzen.

Esther sah mich aus durchdringenden grünen Augen an. „Du siehst echt nicht gut aus. Vielleicht solltest du zum Arzt gehen.“

Ich schüttelte den Kopf. „Das geht schon. Ich bleib heute einfach zuhause. Ein ander‘ Mal okay?“

Sie sah nicht überzeugt aus. Nach einigen Minuten, in denen sie wie ein aufgescheuchtes Huhn um mich herumscharwenzelte, liess sie sich endlich überzeugen, alleine zu dem Film zu gehen. Als sie weg war, kochte ich mir einen Tee und wollte mich eben aufs Sofa legen, als mein Handy klingelte.

Mein Vater.

Das hatte mir gerade noch gefehlt. Seufzend nahm ich den Hörer in die Hand.

„Wie geht es meiner Lieblingstochter?“, fragte mein Vater mit seinem typischen Schalk in der Stimme. Er nannte mich seine Lieblingstochter, dabei war ich sein einziges Kind. Ich verdrehte die Augen.

Wenn ich ihm sagte, dass ich Kopfschmerzen hatte, würde er sich nur sorgen machen. Also versuchte ich betont fröhlich zu klingen. „Mir geht es super! Es könnte nicht besser sein.“ Die Kopfschmerzen waren weg. So als hätte es sie nie gegeben. Ich runzelte die Stirn.

Den Rest des Gespräches bekam ich nur mit halbem Ohr mit und meine Antworten waren wohl sehr einsilbig. Irgendwann unterbrach sich mein Vater.

„Bist du sicher, dass es dir gut geht?“

Ich nickte, bevor mir einfiel, dass er meine Bewegungen durch das Telefon nicht sehen konnte. „Ich bin sicher“, sagte ich  und erwartete schon fast, dass die Kopfschmerzen zurückkamen.

„Du klingst angespannt.“

„Ich bin bloss abgelenkt.“

Nichts geschah und ich atmete erleichtert aus.

„Dann werde ich dich nicht mehr länger stören.“ Er legte auf und ich sass etwas verdattert auf meinem Sofa und starrte auf den dunklen Bildschirm meines Smartphones. Der Tee war inzwischen kalt geworden und ich hatte auch gar keine Lust mehr, ihn zu trinken.

Was für ein komischer Tag.

Ich zuckte zusammen, als mein Handy erneut klingelte. Die Nummer meines Chefs blinkte auf dem Display. Hektisch blickte ich auf den Kalender. Es war Samstag der Fünfte. Ich fluchte laut. Dann nahm ich das Gespräch entgegen.

„Wo sind sie denn? Ich habe schon dreimal versucht sie anzurufen.“

Wenn mein Chef an einem Samstag anrief, bedeutete das nie etwas Gutes. Ich hatte etwas vergessen. Bloss was? Ich biss auf meine Lippen.

„Ich – äh – es tut mir Leid“, stotterte ich . Eine Ausrede, ich brauchte eine Ausrede. Ein Blick aus dem Fenster brachte mir die gewünschte Idee. Es schneite. Dicke Flocken fielen langsam aber stetig vom Himmel und der Boden war schon unter einer dicken, flauschigen Schneeschicht bedeckt.

„Ich war schon auf dem Weg“, begann ich zögerlich mit meiner Notlüge. Als der Raum  um mich herum zu verschwimmen begann stockte ich, „aber da war ein Unfall. Der Verkehr ist vollkommen zum Erliegen gekommen.“

Zu spät realisierte ich, dass ich im Auto sass. Ich riss die Augen auf und versuchte durch das Schneetreiben vor mir etwas zu erkennen und gleichzeitig meinen Atem unter Kontrolle zu kriegen. Ich war mir sicher, dass ich vor nur einer Sekunde, noch zuhause in meiner Wohnung stand.

Vor mir tauchte urplötzlich ein zweites Auto auf. Es stand quer auf der Fahrbahn. Mit aller Kraft trat ich auf die Bremsen und riss gleichzeitig das Steuer reflexartig herum. In meinem Kopf hörte ich die Stimme der Wahrsagerin: „Sie müssen mit diesen Notlügen aufhören. Sonst werden sie grosses Unglück erleben.“

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